STILLER

Max Frisch, 1953 / 1954

...
Julika immer noch in Paris.
Es ist ja nicht war: - ich kann nicht allein sein, genau genommen, und ich habe es noch kaum eine Stunde in meinem Leben gekonnt! Und meistens war da, genau genommen, ein Weib. Angefangen bei meiner lieben und guten Mutter; ich bestand meine Maturität gerade so mit knapper Not und war froh für meine Mutter, damit mein Stiefvater nicht sagen konnte: Siehst du jetzt, dein nettes Söhnchen! und später trat ich meine heimatliche Strafe an, eine eidgenössische Wolldecke unter dem Arm, und sass fast einen Sommer lang in der Kaserne, aber allein war ich nicht, denn es tat mir leid für meine Mutter, der so etwas furchtbar war. Eine Unsumme von Stunden, mehr als ein Menschenleben je an Stunden hat, möchte man meinen, sind mir auf Abruf im Gedächtnis, Stunden, die ich für Alleinsein hielt, Abende in Hotelzimmern mit Lärm aus fremden Gassen oder Blick in einen Hof, Nächte auf Bahnhöfen irgendwo, Frühlingstage in einem öffentlichen Park voll Kinderwagen und voll Fremdsprache, dann wieder Nachmittage in gewohnter Spelunke, Wanderungen in Regen und Wald und in Gewissheit, dass ein ersehnter Mensch nie wieder zu sprechen sein würde, Abschiede von jeder Sorte, saubere und rasche und aufrechte Abschiede, aber auch erbärmliche, wimmernde, verschleppte, feige Abschiede; eine Unsumme von Stunden, sage ich, und trotzdem war ich nie allein, genau genommen, keine Stunde lang. Irgendeinen inneren Ausweg fand ich stets, eine süsse oder eine quälende Erinnerung, ein leidenschaftliches Gespräch mit einem unsichtbaren Menschen, den es meistens überhaupt nicht gab, doch ich erfand ihn, um nicht allen zu Sein, oder Hoffnung auf eine grossartige Begegnung an der nächsten oder übernächsten Strassenecke. Heisst das Alleinsein? Ganz im Anfang meiner Künstlerei, mag sein, war ich allein, vermochte ich es beinahe, in einem wirklichen Sinn allein zu sein in der Hoffnung, in Lehm oder Gips mich verwirklichen zu können; aber diese Hoffnung währte nicht lang, und schon war der Ehrgeiz da, die Freude in der Hinsicht auf Anerkennung, die Sorge in Hinsicht auf Geringschätzung, monatelang sah ich Menschen, verbissen in meine Kunst, die nie eine werden konnte, verkrochen in die vier Wände meines Ateliers, ein Einsiedler ohne Radio wie im Mittelalter, wortkarg wie ein Ruderer auf der Galeere, ein Mönch in bezug auf Mädchen, aber nur in bezug darauf, ein frohlockender Rumpelstilz in Gedanken daran, dass noch niemand mein Genie auch nur ahnte, und fleissig war ich wie ein gepeitschtes Tier, von Ehrgeiz gepeitscht; also war ich nicht allein. Und ich war nicht allein bei meiner Fähre am Tajo; im Falle meines Todes, ich wusste es, würde Anja nicht zusammenbrechen und ins Kloster gehen, sie würde weiterhin die Lebendigen pflegen und weiterhin sich lieben lassen, aber sich mitunter an mich erinnern, und als mich dann niemand erschoss, als sie mich nur mit meinem Hosengürtel fesselten, Hände und Füsse zusammen, und mich in den Ginster warfen, war ich nicht alleine; ich hatte meine Schmach vor Anja, glaubte vor Durst elendiglich zu sterben und Anja nicht wiederzusehen, ich schrie solange ich konnte, dann schrie ich nicht mehr, aber an der Schwelle der Ohnmacht hatte ich Anja, meine segnende Schmach von Anja. Und ich war nicht allein auf dem Heimweg, obschon ich die Fremdheit in der Heimat ahnte; nächtelang auf meinem Marsch, nächtelang in den Wartesälen Frankreichs rechtfertigte sich mich vor Anja, ich schämte mich vor ihr, ich empörte mich über sie und sammelte Gedanke gegen sie; ich war nicht allein. Und dann, ferne von ihr, erzählte ich meine spanische Anekdote, meine Bekannten glaubten es mehr oder weniger , aber ich wusste, wer um die Wahrheit wusste, nämlich Anja, und also war ich nicht allein. Es ist lächerlich, ja, aber wahr: Immer war da ein Weib, womit ich mich täuschen konnte. Ich hatte männliche Freunde, nicht viele, den einen und andern; das war Freundschaft, doch keine Täuschung über unser Alleinsein als einzelne. Oft habe ich an ferne Freunde gedacht, neugierig auf ihre Gedanken oder froh um ihren Widerspruch oder auch in schmerzlichem Zerwürfnis; in den Stunde des Grauens aber, in den Stunden meiner Unfähigkeit, allein zu sein, war es stets nur ein Weib, Erinnerung oder Hoffnung um ein Weib, womit ich meinem Alleinsein entschlüpfte. Warum war ich nicht imstande allein zu sein, und gezwungen, mich mit dieser Balletteuse zu langweilen, derart, dass ich dieses Meertier auch noch heiraten musste? Es ging von mir aus, kein Zweifel, ich hatte immer wieder einmal so einen eisernen Willen mit verkehrter Steuerung. Und tausendundeine Nacht, mindestens, griff ich mir an den Kopf und schlief ein, nicht einmal in der Ehe konnte ich allein sein. Ich liess sie im Stich; sie demütigte mich und ich demütigte sie; aber allein war ich nie. Und ich war nicht allein in dem Heck-Laderaum eines italienischen Frachters als blinder Passagier, ein Auswanderer ohne Papiere für Amerika; nur ein bestochener Heizer wusste damals, dass es mich gab dort unten zwischen den Fässern, und es war dunkel, stank, war heiss, so dass mir (jedem an meiner Stelle!) der Schweiss aus allen Poren rann, ich begriff sehr wohl, dass die schöne Julika sich ekeln würde vor diesem Schweiss; also war ich nicht allein. Es wäre die Chance meines Lebens gewesen, allein zu sein, eine ungestörte Chance von achtzehn Tagen und neunzehn Nächten bei meistens ruhiger See, so dass ich nicht einmal eine Ausrede machen kann, damals wäre mit übel gewesen. Ein einziges Mal, wahrscheinlich kurz nach Gibraltar, hatte ich mich übergeben müssen; der Kahn stampfte ein paar Stunde lang, beruhigte sich aber wieder...